Wir suchen Frau Venus
Eine Fahrt ins Blaue. Von der einfachen zur komplexeren Suche
Tutorial #9 von Klaus M. Schmidt
21.11.2017
Wir beginnen unsere Fahrt ins Blaue im Literaturkorpus der MHDBDB einfach einmal mit dem Bild, das die MHDBDB auf fast allen Webseiten begleitet. Nehmen wir an, wir haben keine Ahnung, woher dieses Bild stammt und wen diese seltsame, bekrönte, weibliche Figur, bewaffnet mit Pfeil oder Wurfspieß in der einen und einer Fackel in der anderen Hand bezeichnet.
Als wenig vertraut mit der MHDBDB versuchen wir zunächst, die Wörter Pfeil und Fackel als Kombination im Kontext ins Suchfenster des Moduls Textsuche einzugeben. Erstaunt stellen wir fest, dass dies in diesem bestimmten Fall sogar mit den nhd. Wörtern funktioniert und tatsächlich ein Ergebnis bringt. Warum? Bewegt sich die MHDBDB denn nicht ausschließlich auf mittelhochdeutscher Sprachebene? Geben wir die Wörter Pfeil und Fackel getrennt im Suchfenster des Wortindex ein, wird uns klar, dass unsere nhd. Formen bereits in spätmhd. Zeit in manchen Texten verwendet wurden:
Ergibt:
Die Eingabe
ergibt sowohl den Eigennamen Pfeil (Otte von Brandenburg mit dem Pfeile) als auch das Nomen Pfeil, dessen mhd. Lemmaform eigentlich phîl ist, unter welcher auch pfeil als Variante erscheint.
Nun zurück zur Eingabe der Wortkombination im Suchfenster der Textsuche:
Den Kontext stellen wir auf den Mittelwert 5 Textzeilen ein:
Das bringt uns nur einen Textbeleg:
Drücken wir auf die 1, so erscheint die folgende Textstelle:
Dabei handelt es sich vielleicht um eine Spur, die aber nicht unbedingt zu einer Erklärung des Bildinhaltes unseres Ausgangspunktes führt. Aber wir erkennen wenigstens, dass es sich bei dieser Textstelle um seltsame Erscheinungen am Himmel handelt, d.h. Kometen, Feuerpfeile (Sternschnuppen), flammende Kronen (aurea borealis), etc. unter den gewohnten Himmelserscheinungen der Sternbilder und Planeten. Wir wissen auch, dass die meisten Himmelskörper gewöhnlich nach Göttern der antiken Mythologie benannt sind.
Deshalb versuchen wir es einmal mit der Kombination der Begriffe WAFFEN und MYTHOLOGISCHE NAMEN, die wir im Begriffssystem der MHDBDB aufspüren:
Das erbringt:
Und weiter:
Ergibt:
Dazu wollen wir die Suche auf die weiblichen mythologischen Namen beschränken:
Ergibt:
Damit haben wir die gewünschte Begriffskombination, die wir ins Suchfenster der Textsuche eingeben wollen: 24421+21011+23231
Die Suche bringt uns eine Fülle von 230 Belegen. Gleich beim ersten Beleg unter dem Textkürzel CR (Moriz von Craûn) stoßen wir auf die bewaffnete vrou Vênus, die dem schlafenden König Salomo einen Liebespfeil ins Herz schießt:
Venus ist auch die am häufigsten vorkommende Figur unter den Belegen. Der erste Beleg sagt uns aber auch, dass in der mhd. Literatur offensichtlich Venus und Amor in einer Mischung verwendet werden, wenn Frau Venus selbst mit solchen Pfeilen um sich schießt. Ein Blick auf die antike Mythologie zeigt, dass bereits bei den Griechen Aphrodite mit dem Kriegsgott Ares verbunden wird, und dass wohl daraus ihr kriegerischer Sohn, der Liebesgott Eros, entstanden ist. (https://de.wikipedia.org/wiki/Aphrodite#Herkunft_des_Kultes)
Diese Vermischung von Mutter und Sohn (Venus und Amor) wird in einem der nächsten Belege aus unserem Korpus für mhd. Literatur klar bestätigt:
Jetzt befinden wir uns offenbar auf der richtigen Spur zur Erklärung unseres Bildinhalts. Die prominenteste Himmelserscheinung unter den Planeten ist der Morgen- und Abendstern, benannt nach der römischen Göttin Venus. Es fehlt uns nur noch die Verbindung von Venus und Fackel. Das genau geben wir jetzt als Suchkombination ein (Venus+Fackel). Dafür erhalten wir 8 Belege, von denen wir nur zwei bekanntere hier vorstellen:
Die Fackel symbolisiert also das Feuer der Leidenschaft, das die Liebesgöttin in den Herzen der Liebenden entzündet.
Aber warum erscheint auf unserem Bild Frau Venus mit einer Krone auf dem Haupt? Als solche erscheint sie doch weder in der antiken griechischen noch der römischen Mythologie. Die Krone ist doch eigentlich ein weltliches Adelsprädikat und Amtssymbolik für die höchsten Rangstufen weltlicher Macht. Maria erscheint uns als gekrönte Himmelskönigin bekannter und plausibler. Gibt es also eine Verbindung zwischen der heidnischen Göttin Venus und der christlichen Mutter Gottes?
Finden wir zunächst einmal für Adel den richtigen Begriff in unserem Begriffssystem:
Ergibt:
Dann suchen wir nach Venus in der Kombination mit GEBURTSADEL (24321):
Das liefert uns 192 Textbelege:
Lassen wir uns diese alle anzeigen, indem wir auf die Gesamtzahl 192 drücken, so sehen wir, dass die Göttin Venus bei der überwältigenden Anzahl von Belegen als Vrou Venus erscheint. Hier nur der Beginn der Belegstellen:
Dazu fällt uns vielleicht ein, dass im Mhd. die Bezeichnung vrouwe = Frau als ein Prädikat für den Hochadel stehen muss, und wîp (Weib) also unser heutiges Wort Frau repräsentiert. Daneben erscheint aber Vrou Venus auch bei einer ganzen Reihe von Belegen mit dem Attribut künegin.
Bei der Liste von Textstellen fällt uns auf, dass Frau Venus als Königin in einem bestimmten Text besonders häufig und fast gebetsmühlenhaft auftaucht:
Wir sind damit auf den Dichter Ulrich von Liechtenstein mit seinem in der Ich-Form geschriebenen Roman Frauendienst gestoßen, in dem eine große Anzahl von Liebesgedichten und Liebesbriefen eingebettet sind. Wenn wir in Wikipedia den Artikel zu Ulrich von Liechtenstein aufschlagen (https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_von_Liechtenstein), ist das Rätsel endgültig gelöst. Dort erscheint nämlich prominent sein Dichterporträt aus der großen Heidelberger Liederhandschrift, auf dem wir sofort die MHDBDB-Illustration als Helmschmuck des ritterlich gerüsteten Liederdichters erkennen.
Der humorig-satirische Roman Ulrichs von Liechtenstein hat die Bemühungen des Ritters Ulrich von Liechtenstein zum Inhalt, Zutritt zum Schlafzimmer einer Frau zu erlangen, zu der er in heißer Liebe entbrannt ist. Diese reizt ihn zwar immer wieder an, stößt ihn dann aber jedes Mal kurz vor dem Ziel in erniedrigender Weise zurück. Zu ihren Ehren veranstaltet Ulrich eine Turnierfahrt, bei der er als vrouwe Venus verkleidet in Mestre als schaumgeborene Liebesgöttin aus dem Meer steigt und anschließend in dieser Verkleidung im italienisch-slowenischen-ungarisch-tschechischen-österreichischen Raum von einem Turnier zum anderen zieht.
Warum wir gerade dieses Bild seit Jahrzehnten als Motiv für die MHDBDB gewählt haben? – Der Gründer der MHDBDB, Klaus M. Schmidt, hat im Rahmen seiner Dissertation 1970/71 den ersten digitalen Begriffsindex zu Ulrich von Liechtenstein erarbeitet. Das Bild soll uns stets daran erinnern, dass während der langen, oft mühevollen Arbeit an der Erstellung von neuen digitalen Medien der Humor stets ein treuer Begleiter sein muss.
Wir haben dann nur noch eine offene Frage: Gibt es noch weitere Parallelen zwischen Der Königin Venus und der Himmelskönigin Maria, der Mutter Gottes? Die Antwort muss am Himmel zu finden sein. Suchen wir also nach Venus und Maria in Verbindung mit dem Begriff HIMMELSKÖRPER (11). Die Sucheingabe
bringt uns in 37 Belegen die erwartete Bestätigung, dass Venus neben Sonne und Mond die dominanteste Erscheinung am Himmel ist. Als Morgen- und Abendstern ist sie die prominenteste unter den Planeten, die ständig den Zyklus des menschlichen Lebens begleitet. Wenn Meister Eckart Venus mit dem “Frei”-tag in Verbindung bringt, fragen wir uns allerdings zurecht, ob er wirklich über den Ursprung des Namens Frei-tag von der germanischen Göttin Freia gewusst hat.
Wiederholen wir die gleiche Suche mit dem Namen “Maria” statt “Venus”, dann erscheint vor uns in 70 Belegen die ganze Palette der kosmischen Erscheinungsformen der mittelalterlichen Marienfigur als “Himmelsfürstin”: Meerstern, Maria im Sternenkranz, im Sternenkleid, als Himmelsleiter, -pforte, -schloss, -tau, Maria auf der Mondsichel, wie sie uns auf unzähligen bildlichen Darstellungen in katholischen Kirchen der Welt entgegen tritt. Fazit: für das Mittelalter gab es zwei Himmelsköniginnen, Venus und Maria, die erste repräsentiert die leidenschaftliche (körperliche) Liebe, die Sexualität, die zweite die karitative (fürsorgliche) Liebe zum Mitmenschen und die Liebe zu Gott.
Auf unserer kleinen Fahrt ins Blaue sind wir also unerwartet im kosmischen Blau des Sternenmantels der im Mittelalter so hochverehrten Marienfigur gelandet. Aber alle Wege und Umwege führen zu einem Ziel.